Aus dem vielschichtigen Erscheinungsbild neuer geistlicher Aufbrüche und Bewegungen lassen sich - mit einer gewissen Abstraktion - einige gemeinsame und durchlaufende Perspektiven herausgreifen. Diese Leitelemente kommen in den einzelnen Bewegungen in unterschiedlicher Gewichtung zum Tragen (zum Folgenden vgl. F. Valentin (Hrsg), Neue Wege der Nachfolge, Salzburg 1981, 207 ff, M. Tigges, Neue geistliche Bewegungen - eine Anfrage an Berufung und Sendung der Kirche heute, in: Ordenskorrespondenz 3/1987, 291 ff).
Die verschiedenen Gruppen von Bewegungen hält das Interesse an Spiritualität zusammen. Es geht nicht in erster Linie um Aktion und Programm, Effizienz und Strategie, vielmehr um eine Erneuerung des menschlichen Denkens und Wollens aus dem Geist des Evangeliums. Diese Spiritualität knüpft meistens an große Vorbilder und Meister des geistlichen Lebens an und bedient sich nicht selten herkömmlicher oder auch neuer Techniken und Einübungsformen der Meditation und des Gebetes. Gemeinsam dürfte den geistlichen Bewegungen auch der Drang nach Glaubenserfahrung sein. Sie wollen sich nicht mit einem äußeren Kennenlernen von Formeln und Begriffen begnügen, sondern - um mit der klassischen Tradition zu sprechen - die Dinge Gottes von Innen her verkosten.
Aus der Glaubenserfahrung in der Gemeinschaft entspringt auch das gemeinsame Sprechen darüber, das selbst wiederum elementare Voraussetzung ist für das Zeugnis des Glaubens nach außen. Bei fast allen Gruppen spielt dabei die Lektüre der Heiligen Schrift und das Bibelgespräch eine große Rolle. Die Erneuerung des Gottesdienstes in kleinen Gruppen, aber auch in größerer Gemeinschaft und eine Neubesinnung auf die Sakramente gehören zu dieser Spiritualität, die sich bewusst als zur Kirche gehörig begreift.
Einige Gruppierungen bemühen sich besonders um ein vertieftes Verständnis der Taufe; die Tauferneuerung steht bei ihnen an entscheidender Stelle (Charismatische Erneuerung, Cursillo-Bewegung, Neue katechumenale Gemeinschaft).
Das Sakrament der Ehe neu zur Erfahrung werden zu lassen, ist ein besonderes Anliegen der verschiedenen Ehe-Gruppen (Equipes Notre Dame, Marriage Encounter).
Auch das Bußsakrament wird in diesen Gemeinschaften neu entdeckt. Die Entwicklung weg von der kurzen schematischen Beichte hin zum Beichtgespräch und zur geistlichen Beratung und Führung ist für die Mitglieder gleichsam eine Selbstverständlichkeit geworden.
Das Sakrament der Firmung und die Feier der Krankensalbung haben vor allem in der Charismatischen Erneuerung einen neuen Stellenwert erhalten.
Schließlich wächst in solchen intensiv christlichen Gruppen neu das Gespür für die Notwendigkeit und den Geschenkcharakter geistlicher Berufe. Aus den verschiedenen Bewegungen haben sich schon zahlreiche junge Menschen für den kirchlichen Dienst entschieden (vgl. hierzu auch das Nachsynodale Apostolische Schreiben "Pastores dabo vobis" vom 25. März 1992, Nr. 68).
Spirituelle Erfahrung braucht neben Reflexion und geistlicher Führung, neben Zeiten der Stille und des Gottesdienstes auch das Element der Weiterbildung, wenn sie nicht bei einer subjektiv gefärbten Innerlichkeit stehen bleiben will. Die Bewegungen sorgen daher dafür, dass in regelmäßigen Treffen und/oder durch schriftliche Mitteilungen den einzelnen eine entsprechende Hilfe an die Hand gegeben wird (Werkhefte und Monatszeitschriften).
"Evangelisation" oder "Evangelisierung" ist in der deutschen Sprache noch ein relativ junger Begriff, der jedoch in den letzten Jahren immer häufiger in theologischen Abhandlungen, katechetischen Papieren und Predigten verwendet wird (vgl. hierzu u. a. das grundlegende Apostolische Schreiben von Papst Paul VI. über die Evangelisierung in der Welt von heute "Evangelii nuntiandi" vom 8. Dezember 1975; das Apostolische Schreiben "Christifideles Laici" von Papst Johannes Paul II., dort bs. die Nrn. 34 und 44, vgl. auch den Artikel "Evangelisation" im Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3, Spalte. 1033 - 1036, Freiburg 1995).
Die neuen geistlichen Bewegungen legen Wert auf die Verwirklichung des Auftrags, das Evangelium zu verkünden, gerade in den Bereichen, in denen die Kirche nur durch das Apostolische Zeugnis der Laien das "Salz der Erde" werden kann (vgl. hierzu auch die Aussagen des II. Vatikanischen Konzils über das Laienapostolat, LG 33).
Aus dem Mangel an echter Katechese sind z. B. das Neukatechumenat und das Cursillo, das bewusst offen ist für engagierte Christen wie für sogenannte Fernstehende, entstanden. Es sind oft ungewohnte, neue Wege, auf denen das Evangelium weitergetragen wird. Es zeigt sich aber in den Wirkungen, dass solche Versuche echte Hilfen sind, den Auftrag Christi in der heutigen Zeit zu erfüllen. Dies erkennt man u. a. daran, dass der Mut zum engagierten Glaubensbekenntnis - von einzelnen Mitglieder oder der Gruppe gelebt - vor allem jungen Menschen den Zugang zur christlichen Botschaft neu erschließt. Im Umfeld der charismatischen Erneuerung werden verstärkt "geistliche Bibelschulen" und "Lebens- und Glaubensschulen" angeboten. Um die Evangelisation glaubwürdig verwirklichen zu können, betonen und fördern die geistlichen Bewegungen - entsprechend ihrem besonderen Charisma - die innere Einheit zwischen dem praktischen Leben und dem Glauben ihrer Mitglieder.
Bezeichnend für die geistlichen Bewegungen ist auch die Überzeugung, als Glaubende gemeinsam unterwegs zu sein. Die Schriftstelle "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt 18,20) ist für manche Gemeinschaft Leitwort geworden; erst durch Christus und in ihm ist wirkliche Gemeinschaft und brüderliche Gesinnung untereinander möglich. Die Erfahrung von Gemeinschaft im Namen Jesu ist aber nicht Selbstzweck. Sie ist von Anfang an offen für andere. So kann die Gruppe bzw. die konkrete geistliche Gemeinschaft auch als "Kirche im kleinen" verstanden werden (vgl. dazu LG 11, GS 48, AA 11, Apostolisches Schreiben "Familiaris consortio", Nr. 49 u. a.). So übersetzt sich die Rede von der Kirche als "Communio" in erfahrbare und anschauliche Nähe.
Ein solches Leben in geistlicher Gemeinschaft ist darum in verschiedenem Sinn von Geschwisterlichkeit geprägt. Diese hat notwendigerweise einen weitgespannten Bogen. Sie kennt die Geborgenheit und Nähe der überschaubaren Gruppe, sie weiß etwas von der Solidarität größerer Gemeinschaften; gerade in der Kirche bedeutet dies umfassende Katholizität und Internationalität. Darum gehen viele geistliche Bewegungen auch an die "Straßen und Zäune", Randzonen und Außenbezirke unseres Lebens. Geschwisterlichkeit wird zur Diakonie. Der Weg zu Gott führt über den Bruder und die Schwester.
Vor allem geht es immer wieder darum, das Christsein im Alltag zu verwirklichen. Dazu wollen die verschiedenen Gruppentreffen eine Hilfe und Ermutigung sein. Der persönliche Austausch, die Korrektur und Ermutigung, vor allem aber die Erfahrung, nicht allein in diesem Bemühen zu sein und sich mit anderen verbunden und von ihnen getragen zu wissen, gibt den einzelnen immer neue Kraft für ihre ganz unterschiedlichen Aufgaben. Für die heutige materialistisch denkende und konsumorientierte Gesellschaft dürfte die Tendenz zur Armut, wie sie von vielen Mitgliedern der geistlichen Bewegungen gelebt wird, ein besonders aktuelles Zeugnis sein.
Als offene Gemeinschaft sind viele geistliche Bewegungen auch ökumenisch ausgerichtet. So ist z. B. das "Lebenszentrum Ottmaring" bei Augsburg durch das Engagement der Fokalarini als ökumenische Begegnungsstätte entstanden.
Diese Geschwisterlichkeit ist nicht nur - wie schon erkennbar wurde - gruppenintern, sondern bezieht sich auf alle Menschen. Der Weltauftrag wendet sich jedoch zuerst an Personen, die der Hilfe bedürfen, nur in zweiter Linie treten auch gesellschaftliche und politische Strukturen in den Vordergrund des Interesses. Dies ist besonders bei den Aufgaben der Diakonie erkennbar. Es ist ein Kennzeichen der neuen geistlichen Bewegungen, dass ihre Weltzuwendung nicht loszutrennen ist von ihrer Spiritualität. Kontemplation und Kampf, um mit Roger Schutz aus Taizé zu sprechen, gehören zusammen. Weltdienst und Heilsdienst werden zwar unterschieden, brauchen aber einander und vermitteln sich gegenseitig. Es ist freilich ein kritischer Zug in dieser Form des Weltauftrags erkennbar: das Engagement in der Welt ist gepaart mit gleichzeitiger Distanz. Gegenüber der offenen Gesellschaft mit ihren Bedürfnissen und Interessen besteht ein letzter Vorbehalt. Auch wenn die Welt der Ort der von Glaube, Hoffnung und Liebe geprägten Spiritualität ist, so bleibt sie doch das Vorletzte. So bleibt der Weltauftrag der neuen geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen immer irgendwie auch eine Art Gegenentwurf, eine Alternative, was sie gewiss mit manchen Tendenzen in bestimmten Gruppen heutiger Subkulturen verbindet. Dies gilt z. B. für die Suche nach Formen alternativer Lebensstile. Aber auch diese sind von der spirituellen Triebkraft beeinflusst, wie sich z. B. an der vielfach geübten Praxis der "Wüstentage" erkennen lässt. Das wahre Sicheinlassen auf die Welt geht einher mit einem eschatologisch orientierten Verzicht. Hier gibt es Berührungspunkte mit den klassischen Orden und den Säkularinstituten (vgl. hierzu auch VC 62).
Die neuen geistlichen Bewegungen sind weitgehend von Laien getragen, auch wenn viele Priester Pionierfunktionen innehaben oder innehatten. Die Funktion der Verantwortlichen ist eher die Ausübung des Leitungscharismas als die Verwaltung eines Amtes. Häufig finden wir in den Bewegungen die Koordination durch ein Leitungsteam. Zweifellos vollzieht sich in den neuen geistlichen Aufbrüchen eine gewisse Erneuerung des Laienapostolates. Aber über diese Tatsache hinaus ermöglichen die geistlichen Bewegungen ein neues Verhältnis von Laien und Amtsträgern. Sie stehen sich nicht als unterschiedliche "Stände" gegenüber. Sie begegnen einander zuerst auf dem Boden des gemeinsam gelebten christlichen Glaubens. Das gemeinsame Priestertum aller Glaubenden schafft eine elementare geschwisterliche Gemeinschaft, die selbstverständlich unterschiedliche Aufgaben und Funktionen zulässt, ja geradezu fordert und anerkennt. Das oft unfruchtbare Gegenüber von Institutionen und Charisma, von Amt und Laientum entkrampft sich, weil es im gelebten Christsein eine Voraussetzung gibt, die alle Gegensätze und Spannungen umgreift und dadurch wenigstens mildert. So ermöglichen die neuen geistlichen Aufbrüche die Umsetzung der großen Prinzipien der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils in das gelebte Leben im Alltag der Welt.
Blickt man auf die genannten fünf Strukturelemente, die den verschiedenen neuen geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen gemeinsam zu sein scheinen, zurück, so kann man von allen Dimensionen her wahrnehmen, wie sich eine neue Form von Kirchlichkeit abzeichnet, die nicht mehr nur institutionsbezogen ist oder gar ideologische Züge annimmt: primär und fundamental getragen von Spiritualität und Glaubenserfahrung, ausgerichtet auf die Verkündigung des Evangeliums an alle Welt, umfassende Gemeinschaft in vielen Ebenen und praktizierte Brüderlichkeit, Hinwendung zur Not der Welt und neues Miteinander von Laien und Amtsträgern. Gerade in diesen Perspektiven kündigt sich eine neue und von vielen gesuchte Form wahrer "Kirchlichkeit" an, die Raum lässt für die Vielfalt der Charismen und Dienste und eine gegenseitige Bereicherung ermöglicht. So erheben die geistlichen Bewegungen und Intensivgemeinschaften keinen Absolutheitsanspruch; ihnen gemeinsam ist das Bewusstsein, ein Funke im Feuer des Heiligen Geistes zu sein, der der Kirche in unserer Zeit geschenkt ist. Die geistlichen Bewegungen haben immer von sich aus den Kontakt zum Amt in der Kirche gesucht. Die Treue zur Ortskirche ist für sie ein wichtiges Element. Es ist sicherlich auch ein Zeichen für die Katholizität und Weite der Kirche, dass die neuen geistlichen Gemeinschaften und Laienbewegungen bewusst in der Kirche und von dieser anerkannt bestehen (vgl. vor allem AA 21 und CL 30, wo Kriterien der Kirchlichkeit für die Zusammenschlüsse von Laien genannt sind).